Tellerrand

Nein ist ein ganzer Satz – Der erste und wichtigste Schritt zum Nein

Dezember 30, 2024 | by info@tellerrand.ch

nein



Der Soldat tritt die Tür eines Einfamilienhauses ein und durchsiebt die Möbel mit Blei. Er und sein Kampftrupp rücken in den Eingangsbereich vor. “Wo ist Klaus?” bellt er die Mutter von dem 7 jährigen Jungen an. Entspannt weist sie ihm den Weg ins Kinderzimmer. Nach dem Kampftrupp kommen 4 Neo Nazis, ein Dutzend Prostituierte und ein unheimlicher Fremder mit Plüschhasen durch die Tür. Alle werden unbekümmert Richtung Klaus geschickt. Aus dem Off hören wir “Im echten Leben würden Sie ihre Kinder schützen, dann machen sie es doch auch im Internet”. Dieser Werbefilm war dazu gedacht Eltern auf die Risiken des Internets hinzuweisen. Ähnlich widerstandslos reagieren manche von uns auf Anfragen von Mitmenschen. Eine extra Schicht am Samstag? Ja klar. Auf die Kinder der Schwester aufpassen? Kein Problem. Ungefiltert lassen wir diese Angriffe auf unser Wohlbefinden durch. In diesem Text will ich 2 Techniken vorstellen die es uns erlauben einfacher Nein zu sagen.

In seinem Buch “Not Nice” behauptet Aziz Gazipura das “Nein Sagen” zu 90% innere Haltung ist und zu 10% Strategie. Es ist so verlockend sich in der Technik zu verlieren. “50 Arten höflich Nein zu sagen”, so ähnlich klingen viele gut gemeinte Tipps. Sie alle verkomplizieren eine simple Wahrheit. Nein ist ein ganzer Satz. Was das “Nein” so tonnenschwer macht ist etwas anderes. Ein fehlendes Bauchgefühl was in Ordnung ist und was nicht. Aus den verschiedensten Gründen kann dieser innere Kompass defekt sein.

Menschen die eine Strategie der Überanpassung gewählt haben sind besonders betroffen. Sie sind überzeugt davon Liebe zu bekommen wenn sie sich über alle Massen verbiegen. Liebesentzug, selbst bei vollkommen fremden Menschen, wird als äusserst bedrohlich wahrgenommen. Sie entwickeln eine Art leistungsorientiertes Rollen Selbst. In ihrer Rolle als Leistungserbringer regeln Sie die innere Stimme ihrer Bedürfnisse fast vollkommen runter. Eine starke Ungewissheit was sie dürfen und was sie nicht dürfen. Es besteht ein direkter Zusammenhang mit fehlenden persönlichen Grenzen. Den Post dazu findest du hier.

Selbstverteidigung auf Treibsand

Ich war schon immer verblüfft wie selbstverständlich andere Menschen “Nein” sagen. Was für mich eine Mammut Aufgabe war ging den Anderen leicht von der Hand. Mehr noch es erschien mir komplett logisch und ich verschwendete keine weiteren Gedanken darauf. Warum nur verhält es sich so dramatisch anders wenn ich mich zu einem Nein durchringen will?

Das Umfeld von Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung hat oft grosse Schwierigkeiten persönliche Grenzen zu setzen. Narzissten sind geschickt darin unsere persönliche Standhaftigkeit Schritt für Schritt abzubauen. Die Mitmenschen von Narzissten haben gelernt nicht mehr auf ihre eigene Intuition zu hören. Diese Grundvorraussetzung für “Nein sagen” fehlt ihnen. Ein Zustand ständiger Destabilisierung. Es ist nicht die Verteidigungstechnik die den Betroffenen fehlt. Zuerst benötigen sie wieder festen Boden unter den Füssen. Raus aus dem Treibsand.

An diesem festen Boden können wir mit folgenden beiden Übungen arbeiten.

Basis Übungen “Nein sagen”

Nein identifizieren

In dieser Übung geht es darum unserem Bauchgefühl auf die Sprünge zu helfen. Für 1 Woche halten wir fest was es zu sagen hat. Wir protokollieren für 7 Tage die Bitten, Anforderungen und Interaktionen mit und aus unserem Umfeld. Es muss nicht immer eine ausformulierte Anfrage sein. Der Arbeitskollege der 5. mal von seinem Urlaub erzählt der uns beim ersten Mal schon nicht interessiert hat. Der nahe Verwandte der ungefragt unsere Zeit in Anspruch nimmt. All das ist unausgesprochener Raubbau an unserem Wohlbefinden.

  • Erstelle ein stichwortartiges Protokoll für die nächsten 7 Tage auf einem Medium deiner Wahl. Ich selber benutze gerne ganz analog Papier. Digital funktioniert natürlich genauso.
  • Nimm dir 15 Minuten Zeit jeden Abend und oder Morgen und halte die 5 wichtigsten Interaktionen oder Anfragen an dich fest. Gerne kannst du sie auch schon während dem Tagesverlauf stichwortartig notieren. Eine Überschrift reicht vollkommen.
  • Beginne bei der bedeutendsten Interaktion und hör in dich hinein wie sie sich angefühlt hat. Warst du danach enttäuscht, kraftlos oder wütend? Notiere dies in Stichpunkten. Wenn du willst kannst du 5 Minuten vorher eine kurze Achtsamkeitsübungen machen. Für mich wirkt Meditation Wunder und die Antworten kommen quasi von alleine. Einfach nur 5 Minuten das Handy wegzulegen oder eine simple Tätigkeit im Haushalt geht genauso.
  • Folgende Fragen können dich inspirieren der Interaktion noch tiefer auf den Grund zu gehen:
    • Ohne viel nachzudenken, hat dir diese Interaktion gut getan?
    • War die Bitte, Anfrage oder der Auftrag gerechtfertigt oder wurde eine Grenze überschritten?
    • Wie war dein Energielevel danach?
    • Hast du dich schuldig oder bedrängt gefühlt?
    • Gibt es ein Muster in der Interaktion das immer wieder auftritt? Die immer gleiche Person die beteiligt ist? Eine bestimmte Art der Interaktion wie Meeting, Gespräch mit dem Vorgesetzten oder Familienfest? Ein bestimmtes Thema?
    • Stell dir vor du würdest vollkommen selbstbewusst in dir ruhen und die Meinung der Anderen würde keine Rolle spielen. Wie wärst du mit der Anfrage bzw. Interaktion umgegangen?
  • Wenn du willst kannst du bei der 2. Interaktion bis Nummer 5 weitermachen. Wenn du nur eine Interaktion pro Tag schaffst ist das vollkommen in Ordnung.
  • Beobachte am Ende der Woche ob sich eine Muster ausmachen lässt mit besonders herausfordernden Personen oder Situationen.

Ziel diese Übung ist einzig und allein das Wahrnehmen. Wir trennen es im ersten Schritt komplett von der Handlung. Mit der Zeit fällt es uns leichter das Nein zu identifizieren. Wir sind achtsam für Auslöser und Muster. Diese Achtsamkeit ist der feste Boden den wir brauchen um die 10% Strategie anzuwenden.

100% Ja oder Nein

Entscheidungen im realen Leben sind ambivalent. Sie abzuwägen ist gut und richtig. Manchmal jedoch sind wir wie der Esel der sich nicht entscheiden kann und zwischen zwei Heuhaufen verhungert. Vor allem wenn unser Bauchgefühl für die eigenen Bedürfnisse noch schwach ist. Eine dominante Persönlichkeit kann diese Paralyse unter Umständen einfach ausnutzen. Das folgende Gedankenexperiment lädt uns dazu ein schneller zu sortieren.

Aziz Gazipura berichtet in seinem Buch “Not Nice” von seinem Mentor Rich Litvin. Dieser hat eine merkwürdige Methode um Menschen zur Zusammenarbeit auszusuchen. Sobald er nicht ein “Verdammt ja, ich will diese Person” empfindet, kommt keine Zusammenarbeit zustande. Alles was nur ein bisschen unter Enthusiasmus liegt ist ein eindeutiges “Nein”. Eine Person die er einfach nur nett findet hat keine Chance. Eine stark vereinfachte und radikale Herangehensweise um sich in seine Entscheidungen zu verlieben. Uns dient sie als hilfreiches Experiment um einfacher zu entscheiden.

Folgende Übung hab ich im oben erwähnten Buch “Not Nice” von Aziz Gazipura gefunden:

  1. Erstelle eine kleine Inventur von deinen täglichen Tätigkeiten und Interaktionen. Persönlich als auch Professionell. Zum Beispiel:
    • Ein Buch schreiben
    • Ins Fitnessstudio gehen
    • Team Meeting
    • Frühstück für die Kinder vorbereiten
    • Mittagessen mit Ulrike
    • Emails schreiben
    • Laufen gehen mit Jochen
    • Podcast hören
    • Abendessen kochen
    • Durch Social Media scrollen
  2. Gehe durch die Liste und bewerte jede Tätigkeit mit einem “100% ja, ich liebe es” oder einem “Ganz sicher nicht, nie wieder”. Der Witz dieser Übung ist das es keine Zwischendrin gibt. Wenn es kein “100% ja das tut mir gut” ist dann ist es automatisch ein “100% Nein, auf gar keinen Fall”. Diese Zuspitzung fordert uns heraus eine Entscheidung zu treffen.
  3. Beobachte nach einer Woche deine Liste. Kannst du Muster entdecken wo du besonders viele “Nein” Bewertungen hast?

Es wird Punkte auf deiner Liste geben die sehr anstrengend und unangenehm sind und trotzdem ein “100% Ja” sein können. Weil sie dich langfristig weiterbringen oder dich wachsen lassen. Ein Beispiel dafür können deine Kinder sein. Windeln wechseln oder ein aufgekratztes Kind zum Schlafen bringen sind keine angenehmen Tätigkeiten. Wenn Sie einer bewussten Entscheidung und der Liebe zu deinen Kindern entspringen sind sie ein absolutes Ja.

Spannend wird es bei den Punkten die ein absolutes “Nein” sind und die dich nicht weiterbringen. Dinge die du allein aus Schuldgefühl tust. Dinge die dir in keiner Weise gut tun. Gibt es einen einfachen Weg diese zu vermeiden? Wären diese Punkte etwas wo du in Zukunft “Nein” sagen könntest?

Das Buch Aziz Gazipura findest du hier verlinkt:

„Not Nice“ von Dr. Aziz Gazipura

Mein schmerzhaften Weg zum Nein findest du hier niedergeschrieben:


RELATED POSTS

View all

view all